Marie-Cécile Zipperling, Hauptsachbearbeiterin, WASt

Lasst mich bitte einige Worte über Ereignisse sagen, die dem einen oder anderen unter Euch vielleicht nicht bewusst sind. Sie betreffen Eure Brüder und Eure Schwestern in Deutschland.

Es sind auch verschiedene Reaktionen oder Bemerkungen Eurer Geschwister, die mich heute dazu bringen, diese schmerzlichen Worte an Euch zu richten. Sie werden Euch helfen, so hoffe ich, die eine oder andere Reaktion eines Bruders oder einer Schwester, wenn er/sie von Eurer Existenz erfährt, zu verstehen. Es kann, wie Ihr es selbst erlebt habt, von der spontanen Begeisterung bis zur Ablehnung, ja sogar zum absolutem Schweigen, gehen.

Durch verschiedene Ereignisse ist es Euch möglich geworden, seit ca. zehn Jahren viel offener über Eure Herkunft als Kind eines deutschen Soldaten zu sprechen. Parallel hat man in Deutschland ein vergleichbares Phänomen erlebt, als einige Autoren es wagten, über die Erlebnisse der Kriegskinder in Deutschland zu schreiben. Gemeint sind dabei die Kinder, die ca. zwischen 1930 und 1945 geboren sind (siehe z.B. Die vergessene Generation von Sabine Bode).

Ich spreche also nicht von den Kindern, die während des Krieges von deutschen Müttern und französischen Vätern geboren sind denn Sie gehören wiederum einer anderen Kategorie an. Nein, ich spreche von den Kindern, die in Deutschland den Krieg mit all seinem Schrecken erlebt haben: massive Bombenangriffe, Verlust des Zuhauses, monatelanges Irren auf den Straßen bei der Vertreibung aus Ostgebieten, Vergewaltigungen, Kinder die zu Tausenden verloren gingen….

Eines Tages ist der Krieg vorbei. Das Schweigen beginnt. Die Last der Demütigung und der Schande infolge der schrecklichen Naziverbrechen verbietet es, über das eigene Los zu klagen. Die Eltern schweigen. Viele Familienväter sind nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Diejenigen, die heimkommen – manchmal nach über 10 Jahren – sind Fremde geworden und sind durch Krieg und Kriegsgefangenschaft gebrandmarkt. Viele Städte in Deutschland liegen in Schutt und Asche. Man muss nach vorn schauen, das Land wieder aufbauen, eine eigene neue Existenz aufbauen. Jahrzehntelang haben diese Kinder, genauso wie Ihr, schweigen müssen.

Erst seit einigen Jahren trauen sich deutsche Frauen und Männer Eures Alters, über die schmerzlichen Erlebnisse zu sprechen. Verschiedene Fernsehfilme haben Ereignisse bekannter gemacht, zum Beispiel: den Bombenangriff auf die Stadt Dresden, die Vertreibung von 12 Millionen Deutschen aus Pommern, Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland, den Untergang der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 (bei dem 4000 Kinder und Jugendliche ihr Leben verloren), die von den Russen vergewaltigten Frauen (Anonyma, eine Frau in Berlin, von Max Färberböck). Jedem dieser Filme folgte eine Dokumentation mit originalen Bildern und erschütternden Zeugnissen von Männern und Frauen, die oft zum ersten Mal von diesen Ereignissen sprachen und die von ihrer Emotion überwältigt waren.

Das alles sage ich Euch heute, damit Ihr die Reaktion der Geschwister, die Ihr gesucht und gefunden habt, besser verstehen könnt. Es ist zweifelsohne ein Schock, wenn man mit 70 Jahren die Existenz eines Bruders oder einer Schwester, von dem oder der man nie etwas gehört hat, erfährt. Aber, und damit will ich Euch auch beruhigen: diesen Schock können die meisten schnell überwinden. Das Hauptproblem ist ein anderes: dieses Ereignis bringt sie plötzlich in ihre eigene Kindheit zurück und die ganze Vergangenheit tritt in Erscheinung.

Ich möchte das mit einem Beispiel belegen. Ein hartes Beispiel, zwar, aber ist es eine Ausnahme?

Am Anfang der 2000er Jahre erfährt Hans, dass er in Frankreich eine Schwester hat. Sie ist 1941 geboren. Er erklärt sich bereit, sie kennen zu lernen. Sie, vor Freude geradezu sprudelnd, kommt nach Deutschland. Sie will über ihren Vater, den sie ihr Leben lang vergöttert hat, alles wissen!

Hans verliert den Boden unter den Füßen. Mit einem Mal hat er seine eigene Kindheit wieder vor Augen. Alle Erlebnisse, die er mühsam tief in sich begraben hatte, tauchen nach und nach wieder auf.

Er selbst ist zur fast gleichen Zeit geboren. Er ist das vierte Kind und seine Mutter ist wieder schwanger, als sie Anfang 1945 ihr Heim in Schlesien verlassen muss, um zu Verwandten ins Rheinland zu gehen. Nach einem stundenlangem Marsch muss jeden Abend ein Dach für die Kinder gefunden werden. Sie müssen etwas essen. Kann man sich heute vorstellen, was diese Frau, die überdies ihr fünftes Kind unterwegs auf einem Bauernhof zur Welt brachte, und was ihre Kinder durchgemacht haben? Fast durch ein Wunder kommen alle sechs heil an. Bei Kriegsende wird der Vater gefangen genommen und, da er fünf Kinder hat, vorzeitig entlassen. Der Krieg hat aber aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Statt zu Frau und Kindern heimzukehren, führt ihn der Weg zu einer weiteren „Verlobten“ (deren Adresse sogar in den Unterlagen der WASt vermerkt ist). Seine Frau lässt ihn suchen. Ein Familienleben ist nicht mehr möglich. Er misshandelt seine Frau und seine Kinder. Anfang der 50er Jahren wird die Ehe geschieden. Hans hat seinen Vater nie wieder gesehen.

Das alles war eine viel zu schwere Last für Hans und erklärt, warum die Beziehung zwischen ihm und seiner Schwester in Frankreich leider in die Brüche gegangen ist.

Es liegt mir fern, Euch ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen! Sowohl Eure als auch die Aussagen Eurer Familienangehörigen in Deutschland zeugen von der Richtigkeit Eurer Nachforschungen.

Ich möchte lediglich, dass Ihr Euch diese Ereignisse bewusster macht und dass auch Ihr Euren Geschwistern zuhört denn sie sind, genau wie Ihr, Kinder des Krieges.