Ein Verein hilft Kriegskindern, die ihre Väter nicht kennen

Von Steve Przybilla : Cultur.zeit Nr 07 – 01.09 bis 07.12.2012

Am Anfang ist es nur ein Verdacht, ein dumpfes Gefühl. Die Ahnung, dass etwas nicht stimmt in ihrem Leben – noch nie gestimmt hat. Madeleine Koch (Name von der Redaktion geändert) spürt es schon lange, doch sie kann den Verdacht einfach nicht fassen. Koch ist 62 Jahre alt, als die Seifenblase platzt. Sie erfährt, dass der Mann, den sie Zeit seines Lebens mit Papa anredet, nicht ihr leiblicher Vater ist. Koch ist ein Kriegskind. Gezeugt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von einem französischen Soldaten. Kochs Mutter ist zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet, ihr Mann steckt als deutscher Soldat in Frankreich fest. Die Nachbarn wissen es, die Verwandtschaft weiß es. Sogar der Mann erfährt es, als er im Sommer 1946 heimkehrt und seine Frau hochschwanger vorfindet.

An diesem Tag wird Madeleine Kochs Schicksal besiegelt. Der Ehemann erklärt sich bereit, das Kind als seines anzunehmen, unter einer Bedingung: Niemand darf je die Wahrheit erfahren. Die streng katholische Familie schämt sich wegen des doppelten Verrats: Ehebruch und Feindkontakt. „Mein Vater muss meine Mutter sehr geliebt haben, weil er blieb.“ Doch dadurch wird für sie das Leben zur Lüge. Als der Großvater der Familie einen ewigen Schwur abverlangt, ist klar: Die kleine Madeleine kommt aus der Ortenau, so wie die Verwandten. Sie ist noch nicht mal auf der Welt, als andere ihre wahre Herkunft zum Tabu erklären.

Madeleine Koch ringt nach Worten. Dreieinhalb Jahre ist es her, dass alles ans Licht kam, aber noch heute fällt es ihr schwer, über das Unfassbare zu reden. „Die Scheu, darüber zu reden, steckt in jedem“, sagt die 65-Jährige, die inzwischen selbst Kinder und Enkelkinder hat. „Schließlich waren die Besatzer auch nach dem Krieg noch der Feind.“ Koch wächst mit zwei Brüdern und einer Schwester auf, nach außen ein ganz normales Familienleben. Doch wenn sie allein ist, schimpft sie der Onkel Bastard. Manchmal betritt sie einen Raum und es wird schlagartig still. Das kleine Mädchen versteht das nicht, fühlt sich aber vom Vater anders behandelt als die restlichen Geschwister. „Das wurde natürlich immer kleingeredet“, erinnert sie sich.

Mit Anfang 60 bekommt Koch erst Schlafstörungen, dann schwere Depressionen. Woher sie rühren, weiß sie nicht. Aber sie hat einen Verdacht: Es hängt mit ihrer Herkunft zusammen. Sie fasst den Entschluss, zunächst ihren Onkel zu kontaktieren. Der blockt, erwähnt erstmals den Eid, den alle geschworen haben. Doch Koch lässt nicht locker, sagt, dass sie ohne die Wahrheit nicht mehr leben könne. Dann bricht die Wahrheit aus ihm heraus – und für Koch die Welt zusammen. „Noch heute kann ich nachts nicht schlafen, wenn ich diese Geschichte erzähle“, sagt sie, den Tränen nahe. Koch erleidet einen Nervenzusammenbruch, nimmt aber trotzdem alle Kraft zusammen und geht zu ihrer Mutter. Sie hat tausend Fragen, zunächst aber nur eine: Wie heißt ihr richtiger Vater? Die betagte Frau, schon Ende 80, erinnert sich nur an den Vornamen – oder will sich nur daran erinnern.

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Ein Kamerad von Madeleine Koch leiblichem Vater

Was folgt, füllt einen ganzen Ordner, den Koch angelegt hat. Sie geht in ihr Heimatdorf, klingelt bei ehemaligen Nachbarn. Recherchiert beim Standesamt, bei Behörden, im Archiv, bei der französischen Armee. Immer wieder Abfuhren, immer

wieder Sackgassen. Anderthalb Jahre vergebliche Suche. Durch Zufall stößt sie schließlich auf einen Zeitungsartikel über „Cœurs sans Frontières“: Ein französischer Verein, in dem sich Kriegskinder beider Nationalitäten zusammengetan haben, die Kochs Schicksal teilen. Die Franzosen helfen ihr, die Odyssee geht weiter. Irgendwie kommt sie an ein Foto ihres leiblichen Vaters – und nach endlos wirkenden Jahren an dessen kompletten Namen.

Für Madeleine Koch ist schon viel erreicht. Viel bleibt aber zu tun. Ihre Geschwister wissen noch immer nicht, dass sie die Wahrheit kennt. Kennen sie sie überhaupt? Ein Treffen mit der späteren Ehefrau ihres Erzeugers steht ebenfalls noch aus. „Ich weiß, dass die Zeit gegen mich arbeitet, aber so etwas geht eben nicht von heute auf morgen.“ Wut über die lebenslange Lüge empfindet Koch nicht. „Mit meiner Mutter habe ich meinen Frieden geschlossen“, sagt sie, „und mein Vater hat mich dadurch geschützt, dass er hinter seiner Familie stand.“ Madeleine Koch will durch „Cœurs sans Frontières“ nun anderen helfen, die das gleiche Schicksal teilen wie sie. Ob der Schmerz aber je ganz verschwinden wird, weiß sie nicht. Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden.