DER BINDE-STRICH

Aktualisierung eines 2010 veröffentlichten Artikels
nach seiner Übersetzung ins Deutsche.

Sie sind sehr angenehm, voller Aufmerksamkeit für mich, sehr rührend, sehr liebenswert. Henny, Paula, Liselotte, Erika sind meine Tanten, die Schwestern meines Vaters, gefunden 65 Jahre nach meiner Geburt. Sie wussten nichts von meiner Existenz bis zu diesem wirklichen Einbruch in ihr Leben: sie hatten eine Nichte in Frankreich!

Es gab ein gewisses Misstrauen….völlig verständlich! Aber Frank fand Argumente, Inge wusste zu überzeugen und ich konnte meinen ersten Brief schreiben.

Ein Traum

Selbst in meinen Träumen hatte ich mir niemals eine ähnliche Situation vorgestellt. Seit meinem zwölften Lebensjahr, das Datum an dem mir eine Freundin das Geheimnis meiner Geburt enthüllt hat, habe ich auf einen Brief aus Deutschland gehofft. Während der Jahre habe ich gewartet, mir vorgestellt, dass früher oder später jemand mein Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe „hört“. Wie? Ich wusste es nicht, aber zweifellos wird sich dieser Traum erfüllen.
Träume bleiben oft Träume und ich habe lange Zeit diese Hoffnung in mir ausradiert jedoch ohne sie völlig zu löschen. Ich musste mich an etwas festhalten, um dieses Unbehagen hinter mir zu lassen, das mich manchmal daran hinderte zu atmen. Man hatte mich solange belogen! Der Blick der anderen war so erdrückend! Ich musste so viele Dinge beweisen! Ich fühlte mich so schuldig!
Die Jahre sind vergangen, meine Jahre auch!
Nach der Veröffentlichung des Buches von Picaper habe ich gedacht, dass ich nicht sterben will ohne die Wahrheit zu kennen, ohne zu wissen wer ich war. Ich habe also die wenigen Hinweise, die ich besaß, an die WAST geschickt: einige Fotos, den Vornamen und Namen meines Vaters. Ich hatte die Hoffnung wiedergewonnen und wartete aufs Neue.
Welche Enttäuschung als ich die Antwort erhielt: die Auskünfte, die ich erteilt hatte, reichten nicht aus, um in den Dateien etwas zu finden. Ich fühlte mich zum zweiten Mal verwaist und die Hoffnung verflüchtigte sich. Ich verzichtete auf jeden weiteren Versuch.

 

Vier Jahre später

Vier Jahre später erschien eine Anzeige in „Le Monde“, die mich über die Existenz eines Vereins „Coeurs sans Frontieres“ informierte dessen Mission meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Was sollte ich tun? Einen neuen Versuch starten? Sich Illusionen machen und enttäuscht werden? Zu schwierig zu akzeptieren!  In einem ersten Moment entschied ich mich zu verzichten. Meine negative Einstellung hielt nicht lange dem Wunsch zu wissen, stand. Ich stellte aufs Neue meine bescheidenen Dokumente zusammen.

Ich warf die Postsachen eines schönen Morgens im Juni 2008 ein und wartete wieder…..auf eine Antwort !

Ich dachte, wenn die WAST mir nicht helfen konnte, so hatte dieser Verein wenig Chancen ans Ziel zu gelangen. Aber….warum nicht? Die Komplexität meiner Gefühle war dergestalt, dass ich mir vornahm, mir überhaupt keine Antwort zu wünschen. Das hieß aber die Entschlossenheit von Jean- Jacques Delorme, des Präsidenten des Vereins, nicht zu berücksichtigen. Er rief mich dann Ende Juli an: die Unterhaltung dauerte lange. Jean-Jacques wusste Worte zu finden, die mir einiges Vertrauen zurückgaben.

Daran zu denken, dass man nichts finden wird, darauf war ich vorbereitet und es war auch nicht schwer zu verstehen, dass die Wartezeit vielleicht lang werden könnte.
Aber ich bin nicht so weit gegangen mir vorzustellen, was entdeckt werden könnte. Wusste ich denn wirklich was ich suchte?
Ein Beweis der Existenz meines Vaters, eine Bestätigung seines Todes, irgendeine Sache, die meine Abstammung bescheinigt: dies ja, gewiss.

9. September 2008

Aber auf jeden Fall hätte ich nie in Betracht gezogen, was ich am 9. September 2008 erfuhr.

Gegen 21 Uhr läutete das Telefon. Die von seinen Gefühlen unterbrochene Stimme eines Mannes, Herr Rouxel, in dieser Zeit der Verantwortliche für den Grand- Ouest, verkündete mir, dass meine vier Tanten gefunden worden seien und er riet mir, Frank anzurufen, um Einzelheiten zu erfahren. Ich lebe  alleine und hatte niemand, um meine Gefühle zu teilen, die mich überfluteten. Das Herz schlägt schnell, die Atmung schwer, das Zittern, die Tränen, ja, ja, das alles und noch viel mehr.

Der Bericht von Frank brachte die ganze Kette von den Personen zu Tage, die solidarisch am Erfolg meiner Recherche gearbeitet hatten. In Gedanken ganz besonders bei  Inge, die so viel getan hat für viele von uns. Sie hat auf eine Weise den Kontakt zu meinen Tanten hergestellt, dass diese die Idee eines ersten Briefes akzeptieren konnten. Im Verlauf der Tage, die folgten, waren die Anrufe von Jean Jacques und Frank ein Trost, eine Stütze ohne Nebenwirkungen während ich tief verunsichert war.

Es ist überflüssig, im Detail auf die für den Entwurf meines Briefes benötigte Zeit einzugehen, auf die Wahl der Worte, auf das Gewicht der Worte, das meine Gefühle gegenüber meinen Tanten offenbarte und das- so hoffte ich es- ihnen bewies wer ich war und sie von der Ernsthaftigkeit meiner Recherche überzeugen würde.

Gefolgt vom ängstlichen Warten auf ihre Antwort….

Dieses Warten hatte ganz offensichtlich Zweifel und Fragen zur Folge, die unausweichlich unter solchen Umständen sind. Die Vornamen und das ungefähre Alter: das war alles, was ich von meinen Tanten wusste. Wer waren sie? Wer könnte diese Familie sein, „ meine „ Familie, die ich vielleicht entdecken würde? Die Suche nach meiner Identität, rechtfertigt sie eine solche Situation sowohl für sie als auch für mich?

Aber sie existierten und hatten die Idee eines Briefes, einer ersten Botschaft  angenommen: das war die Hauptsache!

Der Brief

Einige Tage später war er da, dieser Umschlag, von dem ich seit so vielen Jahren geträumt hatte. Unruhe, Ungeduld und Eifer begleiteten die grobe Geste, mit der ich den Umschlag aufriss.
Und ich las:
„Liebe Monique, du bist ja unsere Nichte, die Tochter unseres Bruders.“
Die erste Lektüre erfolgte durch den Schleier meiner Tränen. Ich las und las nochmal und konnte mich nicht entschließen, den Brief wegzulegen: der Traum ist Realität geworden, meine Tanten müssen gute Feen seien. Seit diesem magischen Tag tauschen wir uns häufig aus und wir telefonieren sogar miteinander. Mich am Telefon auf Deutsch gut auszudrücken, fällt mir schwer, aber ich liebe es, ihre Stimmen zu hören.

März 2009

März 2009: Deutschland ist bereit, den Kriegskindern die deutsche Staatsangehörigkeit zu gewähren. Die Neuigkeit wird von allen Medien verkündet und Jean- Jacques, stolz und glücklich, seinen Kampf vollendet zu haben, informiert uns. Man bietet mir einen administrativen, offiziellen und legalen Weg an, um meine Abstammung anzuerkennen und ich will ihn gehen! Man kann sich wundern über meinen Willen, meine Ungeduld, um von dieser Gelegenheit zu profitieren. Die Chance zu haben, von meiner deutschen Familie akzeptiert zu werden, reichte das nicht aus? Das ist ein wirklicher Glücksfall! Aber die Einbürgerung zu erhalten, ist für mich ein beachtlicher Zusatz selbst wenn es nur psychologisch ist.

Ich habe mich nicht immer mit dem Namen genannt, den ich von meinem fünften Lebensjahr bis zu meiner Heirat getragen habe. An diesen anderen Namen, den meiner Mutter, habe ich keinerlei Erinnerung. Erzogen durch meine Großmutter, die Witwe war und wieder verheiratet, wurde ich aus Gewohnheit mit ihrem Namen benannt. Das ging noch lange weiter so auch nachdem der Ehemann meiner Mutter mich angenommen hatte. Trotzdem ist sein Name gesetzlich der meine geworden zu meinem großen Bedauern.

Als „Kriegskind“ anerkannt zu sein, das heißt für mich meine wahre Identität zu beweisen,  mich von meiner Adoption zu lösen,  den Blicken der anderen die Stirn ohne Scham zu bieten,  darauf zu hoffen unbelastet zu werden. Die Gewichtigkeit der Akten, die administrativen Tücken, das Komplementieren der Beweisstücke, der Hilferuf zum Übersetzen der Akten: nichts konnte meine Entschlossenheit erschüttern.

Während mehr als eines Jahres habe ich das Telefon mit meinen Augen fixiert, bin beim geringsten Läuten hochgesprungen und habe beim Öffnen die Briefumschläge von der Deutschen Botschaft  massakriert!

Jetzt ist die Situation klar

Der Anruf vom 28. Juni auf meinem Handy hat mich völlig überrumpelt. Herr Floth überbrachte mir die gute Nachricht! Mein Schweigen erstaunte und beunruhigte ihn, aber er verstand schnell, dass meine Gefühle die Ursache waren. Letztendlich gelang es uns eine Verabredung zu vereinbaren.

Am 3. August 15 Uhr 30 befand ich mich auf den Stufen zur Botschaft, begleitet von Chantal Le Quentrec und Monika, meiner Freundin und Übersetzerin. Der schweren Tür schien es ein besonderes Vergnügen zu bereiten, sich sehr langsam zu öffnen. Herr Floth wartete auf uns in seinem Büro. Es war ein feierlicher und bewegender Moment als mir Herr Floth meine Rechte und Pflichten als neuer deutscher Bürger zu lesen gab. Bereit jede Verpflichtung zu unterzeichnen, sah ich nur ein Dokument im Büro: meine Einbürgerungsurkunde!

Jetzt ist die Situation klar: ich habe eine französische Familie von der Seite meiner Mutter und eine deutsche Familie von der Seite meines biologischen Vaters.

Meine Kinder und Enkel haben mich immer bei meinen Nachforschungen unterstützt und freuen sich über ihren deutsch-französischen Ursprung. Meine Tanten sind natürlich erfreut.

Abgesehen vom sehr persönlichen Charakter dieser Entwicklung möchte ich an einen symbolischen Aspekt dieser Anerkennung glauben. Symbol einer Geistesentwicklung, Symbol eines Willens zum Frieden zwischen zwei Völkern, Symbol eines komplett verrückten Traumes: und wenn man alle Grenzen abschafft?

Ich habe viel bekommen, viel mehr als ich mir je vorstellen konnte.

Ich danke jenen, die ihre Zeit opfern, ihre Kräfte, ihre Entschlossenheit, um die zu verbinden, die suchen.

M. P-Müller