Ein Kriegskind zu sein

Seit dem Ursprung des Lebens, seit es den Menschen gibt, wird die Welt regelmäßig von Konflikten, Kriegen mit tragischen Auswirkungen erschüttert. Nun, inmitten dieser regelmäßigen Katastrophen bewahrt die Natur manchmal ihre Rechte, und die menschlichen Gefühle überleben die strengen Gesetze des Krieges.

Im Mai 1968 gab es unter den modernen Parolen den berühmten Satz „Mach Liebe Nicht Krieg/Make love not war“…..Seit Jahrhunderten haben unwahrscheinliche Paare diesen Grundsatz angewandt und „verbotene Liebesbeziehungen“ haben besondere Kinder geboren; sie haben die sogenannten „Kriegskinder“ zur Welt gebracht. Die Kinder des zweiten Weltkrieges entweichen dieser Regel nicht.

Was für eine schwere Last für diese Kinder der Liebe, entstanden aus Paaren, die sich fast sofort trennten. Kinder, die einfach nur normal leben möchten. In den meisten Fällen führen sie ein introvertiertes Leben mit einem Gefühl der Ablehnung, der Schuld, des Unbehagens gegenüber einer obskurantischen und intoleranten Gesellschaft. Ihr Dasein hat manchmal ihren Müttern erschwert, einen Mann zu treffen, der sie heiraten wollte („eine ledige Mutter“ zu heiraten, was für eine Schande! So hieß es damals).

Jedoch am Abend des 13.März 2003 um genau 23:30 Uhr ist für sie ein Licht aufgegangen. Der französische Fernsehsender France 3 hat den nun unumgänglichen Dokumentarfilm von Christophe Weber und Olivier Turc „Enfants de Boches“ zum ersten Mal gesendet. Es wird Ihnen niemals genug gedankt werden für diesen erheblichen Beitrag bei der Entwicklung der Mentalitäten in Bezug auf dieses ernsthafte Thema. Es war nicht selbstverständlich eine solche Wahrheit ans Tageslicht zu bringen! Das Tabu wurde nun endlich gebrochen.

Im darauf folgenden Jahr 2004, stimulierte die Veröffentlichung des wichtigen Schriftstücks von Jean-Paul Picaper und Ludwig Norz mit dem Titel „Enfants maudits/Kinder der Schande“ das Bewusstwerden des Publikums uns gegenüber. Seitdem spricht man immer freier von diesem Gesellschaftsphänomen. Der oben genannte Dokumentarfilm wurde zu früheren Tageszeiten mehrmals gesendet, und weitere Fernsehsendungen haben die Nachfolge angetreten. Weitere Bücher wurden ebenfalls herausgegeben.

Wieviele Kriegskinder aus dem zweiten Weltkrieg gibt es in Frankreich? Der Historiker Fabrice Virgili hatte die Zahl von 200000 angegeben; einige halten diese Zahl für überhöht, andere schätzen sie unterhalb der Wirklichkeit. Die wirkliche Zahl ist sehr schwer festzusetzen.

Manche werden nie erfahren, dass sie Kriegskinder sind, da ihre Mutter sich für eine anonyme („unter X“) Entbindung hat. Das von der Vichy-Regierung speziell herausgegebene Gesetz hat ihnen diese Möglichkeit gegeben.

Manche werden nie erfahren, dass sie Kriegskinder sind, da sie Adoptiveltern hatten, die darauf bedacht waren, sie zu schützen, und sie harmonisch erzogen haben, ohne ihnen die Wahrheit zu verraten.

Manche kennen ihre Herkunft. Verstört haben sie sich jedoch in ihrem Geheimnis verschlossen und lehnen es ab sich zu enthüllen und noch weniger darüber zu sprechen oder einem Verein beizutreten. Sie sind davon überzeugt, die einzigen auf der Welt zu sein, die ein solches Trauma durchleben, wobei ihrer Meinung nach alle anderen „normal“ sind.

Manche glauben Kriegskinder zu sein, da ihnen ein deutscher Vater angegeben wurde, um ein Abenteuer mit einem manchmal verheirateten Nahestehenden zu vertuschen, um das Image der Familie zu bewahren.

Und dann gibt es diejenigen, die nur über wenige Informationen verfügen und die die Spur Ihres biologischen Vaters ohne Erfolg entweder im Alleingang oder mit Hilfe eines Vereins weiter suchen. Vielleicht haben aus diesem Grund von den ungefähr 200 000 potenziellen Kriegskindern nur einige Hunderte einem Verein beigetreten, wobei die Zahl der von den Vereinen gelösten Fälle ermutigend ist.

Während das Thema der Kriegskinder immer freier angesprochen wird, und das Archiv der Wehrmacht (WASt) eine Zunahme der Suchanträge beobachtet, fand im April 2005 ein Treffen von Personen mit dem realen Wunsch einen Verein für die Kriegskinder zu gründen in Berlin statt. Kleine Schätzungsunterschiede hinsichtlich der zu erreichenden Ziele haben zur Gründung der zwei aktuellen Vereine geführt.

Unser Verein ist also Anfang 2006 in Bordeaux gegründet worden. Da der in Berlin festgesetzte Name „Coeurs sans Frontières/Herzen ohne Grenzen“ im Département der Gironde schon bestand, hieß der Verein vorerst „Sans Frontières/ohne Grenzen“. Ende dieses gleichen Jahres wurde der Sitz in Le Mans übertragen, wo der Verein den ursprünglich vorgesehenen Namen zurückfinden konnte.

Seit seiner Gründung wurde unser Verein perfekt geführt. Die drei aufeinander folgenden Vorsitzenden haben immer für den Aufschwung von „Cœurs sans Frontières“ gewirkt. Die Vorgehensweise ist einfach, zugunsten der Kriegskinder im strikten Sinne des Respekts, der Toleranz und des Zuhörens und unter jeglichem Verurteilungsverbot handeln.

„Coeurs sans frontières“, deren Mitglieder der einzige Daseinsberechtigung sind, macht sich eine humane, soziale, historische und kulturelle Rolle zur Pflicht. Die hervorragenden in der Denkstätte von Caen (Memorial de Caen) organisierten Kolloquien sind ein Beispiel dafür.

Aber was ist ein Kriegskind? Umfangreiche und schwierige Frage! Die Aktuelle Satzung von „Coeurs sans Frontières“ versucht auf verwaltungstechnischem und nur schwierig vollständigem Wege zu definieren, was ein Kriegskind ist. Es gibt selbstverständlich die Kinder einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters und die Kinder einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters, die Kinder einer französischen Mutter und eines österreichischen Vaters…

Zu notieren ist, dass es in Europa ungefähr 400 000 Kriegskinder aus dem zweiten Weltkrieg geben soll, wie zum Beispiel Kinder einer belgischen Mutter und eines deutschen Vaters… Es ist schwierig siehe unmöglich alle Situationen, alle Sonderfälle im Zusammenhang mit einer Zeit, wo nichts normal, oder in Verbindung mit der Geschichte war, wie zum Beispiel die Fälle der Personen im Elsass und der Mosel, aufzulisten.

Um diese Frage ehrlich und menschlich zu beantworten, würde man dazu neigen die „Kinder, deren Eltern sich nie ohne den Krieg getroffen hätten“ zu erwähnen!

In diesem Rahmen kann sich die Definition eines Kriegskindes nur in einem sehr weiten Umfang verstehen. Unser Verein nimmt verzweifelte Personen auf, in Sorge, dass die Suche nach ihren Wurzeln zu Ende geführt wird. Wenn es dazu kommt, dass eine gewisse Zahl von Kriegskindern eher gut „durchkommt“, führen andere ein mittelmäßiges Leben mit einem erfolgreichen Berufsleben jedoch einem manchmal öden Gefühlsleben. Andere wiederum sind überempfindlich und wankelmütig, oft unzufrieden. Manche leiden an psychologischen Störungen.

Letztendlich entsprechen einige nicht der, durch die Satzung unseres Vereins, festgesetzte einschränkende Definition.

Die Rolle von „Cœurs sans Frontières“ ist es, die Hand auszustrecken, alle vermuteten oder erwiesenen Fälle von Kriegskindern zu berücksichtigen und Hoffnung zu geben. Und das wenn auch, wie zu verstehen ist, unser Verein mit Hilfe von Ehrenamtlichen sich die Mittel zur Pflicht macht, jedoch das Ergebnis nicht garantieren kann.

Wenn eine gewisse Zahl von Erfolgen festgestellt wird, kann es manchmal passieren, dass das Ergebnis von langen und geduldigen Recherchen nicht das Erhoffte ist. Es kann passieren, dass die Suche dazu führt, dass die Eigenschaft des Kriegskindes, wie in unserer Satzung festgesetzt, nicht herausgestellt wird. Es kann passieren, dass die Suche endgültig erfolglos bleibt. Sollten wir dieses Mitglied von unserem Verein abweisen? Sicherlich nicht! Warum sollten wir ihm diese Art von doppeltem Kummer auferlegen?

Ist die Eigenschaft des Kriegskindes notwendig, um „Coeurs sans Frontières“ zu führen?

Man könnte, auf etwas einseitiger Art ja antworten. Das stimmt für einen „klassischen“ Verein wie, zum Beispiel, der Verein von ehemaligen Schülern, wo es einfach ist, da die Mitglieder nur ehemalige Schüler der Schule sind. Der Vorsitzende und der Vorstand sind also automatisch nur ehemalige Schüler. Nun für „Cœurs sans Frontières“ ist die Realität ganz anders. Wie wir gesehen haben ist eine Anzahl der Mitglieder „auf der Suche“, ihre vermutete Eigenschaft des Kriegskindes ist nicht immer erwiesen (wird sie es einmal sein?).

Seit Bestehen unseres Vereins fordert die Satzung auf keinem Fall, dass die Mitglieder des Vorstands Kriegskinder sind. Diese Frage wurde anlässlich der Versammlung des Vorstands am 19. November 2010 in Caen gestellt. Das Prinzip der Notwendigkeit Kriegskind zu sein, um als Mitglied im Vorstand zu wirken, wurde festgehalten. Anlässlich der darauf folgenden Versammlung des Vorstands am 21. Mai 2011 in Straßburg wurde diese Entscheidung einheitlich aufgehoben.

Darüber hinaus nimmt „Cœurs sans Frontières“ Mitglieder auf, die auf keinem Fall Kriegskinder sind. Es sind Unterstützer, die sich für unsere Sache oder für unseren Sorgen ähnliche Themen begeistern. Diese Personen bringen uns eine Kultur, einen Reichtum an Ideen und eine sehr kostbare Verfügbarkeit. Einige darunter beherrschen perfekt die deutsche Sprache. Sollte man auf einen solchen guten Willen und auf solchen Fähigkeiten an der Spitze von „Coeurs sans Frontières“ verzichten?

Coeurs sans frontières ist eine Einstellung, eine Ethik die einzig und allein den Kriegskindern, seien sie erwiesen oder nur Unterstützer, zur Verfügung steht. All diejenigen, die „wegen“ des Zweiten Weltkriegs geboren wurden haben ihren Platz unter uns. Selbstverständlich sind ihre Nachfolger, die was die Suche nach den Wurzeln betrifft immer öfter die Nachfolge der Älteren antreten, vollständig berechtigt unter uns zu sein.

Unser Verein bietet ein freundliches Umfeld, wo man sich wohl fühlt. Ist es nicht rührend zu beobachten, dass bei jeder Generalversammlung, bei jeder Reise, Mitglieder, die sich kurz davor noch nicht kannten, zusammen an einem Tisch sitzen und vertrauensvoll ihre persönliche Geschichte enthüllen, während sie tagtäglich im Tabu leben?

Der Vorstand von „Cœurs sans Frontières“ achtet sehr auf das Empfinden seiner Mitglieder. Er erwartet die Mithilfe seiner Mitglieder nicht aus mangelndem Sachverstand oder aus geistiger Faulheit, sondern weil er im Gegenteil ein kollegiales Funktionieren bevorzugt. In diesem Sinne gibt es keine Hierarchie, sei das Mitglied ein vermutliches, anerkanntes Kriegskind mit doppelter Staatsangehörigkeit oder nicht, oder einfach Unterstützer, sei er Franzose oder Staatsangehöriger eines der betroffenen europäischen Ländern. Wenn es sein Wunsch ist, sollte sich jedes Mitglied äußern, um unseren Verein leben und fortschreiten zu lassen. Das Mitglied sollte vergewissert sein, dass ihm mit größter Aufmerksamkeit zugehört wird.

Le Comité directeur