Am 22.Januar 1963 haben der französische Präsident Charles de Gaulle und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer den Elysée-Vertrag unterzeichnet. Nach drei Kriegen (1870, 1914-1918, 1939-1945) und mehr als 14 Millionen Toten auf beiden Seiten des Rheins wurde durch den Inhalt dieses Vertrages die Versöhnung zwischen den beiden Erbfeinden des europäischen Kontinents offiziell besiegelt. Mehr als nur ein Kooperations-Programm zwischen Frankreich und Deutschland, hat dieses Abkommen eine neue Aera von Frieden und Aussöhnung zwischen den Bürgern der zwei Staaten eröffnet.

Fünfzig Jahre nach diesem Gründungsakt ist fortan die Existenz deutsch-französischer Paare in den Augen der jungen Generation eine Selbstverständlichkeit. 1963, als das Abkommen unterzeichnet wurde, wurden diese Verbindungen jedoch noch immer negativ wahrgenommen. Die Erinnerungen an den Krieg waren noch immer in den Köpfen präsent. Während der Besatzungszeit (1940-1944) waren Liebesbeziehungen zwischen französischen Frauen und deutschen Soldaten untersagt und wurden schwer bestraft. Gleichwohl gab es diese Verhältnisse und ungefähr 200 000 Kinder sollen aus diesen verbotenen und verheimlichten Verbindungen geboren worden sein. 68 Jahre nach dem 2.Weltkrieg haben sich die „Töchter und Söhne der Boches“ wie man sie traurigerweise verhöhnt hat, zusammengeschlossen in verschiedenen Vereinen, wie „Coeurs sans frontières/Herzen ohne Grenzen“ oder der „ANEG“, die „Nationale Vereinigung der Kriegskinder“. Dank der Unterstützung ehrenamtlicher Helfer und den durchgeführten Recherchen bei der Deutschen-Dienststelle „WAST“ (das deutsche Militär-Archiv) haben etliche Suchende die Spuren ihrer väterlichen Familie gefunden und konnten ihre Brüder und Schwestern jenseits des Rheins treffen. Und wenn die Abstammung als rechtsgültig anerkannt wurde, haben einige die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten.

Diese schmerzlichen oder auch glücklichen Geschichten, sind z. B. die von Francoise und Odette, zwei Siebzigjährige Frauen aus dem Oise- Tal. Sie hatten deutsche Väter. Die beiden haben sich bereit erklärt, der Zeitung „L’ECHO, le Régional“ als Zeitzeugen Auskunft zu geben.

Francoise Lacroix : „ Mein Vater hat mich niemals kennengelernt“.

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Francoise Lacroix mit dem einzigen Foto ihres Vaters, das sie besitzt : das aus seinem Sold-Buch (Militärpass)

Als Kind sagte meine Grossmutter immer : „Du hast wirklich einen Boche-Kopf/Tête de boche“. Aber ich wusste nicht , was das bedeutete. Die heranwachsende Francoise musste sich gedulden bis sich der Schleier ihrer Herkunft hob. Seit 1971 lebt sie in Goussainville, ist aber in Barbery im Departement Oise geboren. Bei Beginn der Besatzung arbeiteteihre Mutter auf den Feldern in der Nähe eines Schlosses, das durch die Deutschen beschlagnahmt wurde. Dort bemerkte der Soldat Otto Dexheimer, ein Mitglied der Organisation „Todt“ (ziviles und militärisches Geheimkommando der Wehrmacht ) die junge und hübsche 22-jährige Francoise und verliebte sich in sie. Neun Monate nach ihrer kurzen Liebesgeschichte, kommt ein kleines Mädchen zur Welt, jedoch wird Otto dieses Kind niemals sehen.

Eine verbotene Verbindung

„Mein Vater stammte aus Rheinland-Pfalz und war im zivilen Leben Ingenieur der Wasser-und Forstwirtschaft“ erzählt Francoise. „Einige Monate nachdem er meine Mutter traf, wurde er nach Lorient versetzt und ging 1943 an die russische Front“. All diese Einzelheiten erfuhr Francoise erst viel später. „Mit circa 11 Jahren hat mir meine Mutter eröffnet, dass mein Vater ein deutscher Soldat war. Ich wollte ihn finden, aber ich wusste nicht wie ich es anstellen sollte“.

Alle um mich herum wussten von meiner Herkunft

Francoise Lacroix, ein Kriegskind

Während der ganzen Kindheit wurde das junge Mädchen, Frucht einer verbotenen Verbindung, im Dorf versteckt. „Alle wussten von meiner Herkunft, dass ich nämlich die Tochter eines Deutschen war. Meine Mutter wurde angezeigt und wegen Kollaboration mit dem Feind zu neun Monaten verurteilt“ erzählt sie uns. „Man hat mich nie als Boche-Kind bezeichnet. Die einzige Missbilligung kam von meiner Grossmutter. Sie war zu mir äusserst kühl und verbot mir ins Dorf zu gehen“.Während vieler Jahre musste Francoise mit diesem schweren Geheimnis leben. „Ich mochte nicht mit meiner Mutter darüber sprechen um sie nicht zu verdriessen. Die Idee, meinen Vater zu finden kam erst wieder, als ich Kinder hatte“. Jedoch musste sie bis 1991 warten um die Identität ihres Erzeugers zu erfahren. „Während einer Unterhaltung mit meiner Mutter, nimmt diese ein Stück Papier zur Hand, auf welchem die grosse Auskunft ist. Endlich hat sie mir alles über ihn erzählt, seinen Namen, seinen Herkunftsort, wie er aussah…….“. Im April 1992 nimmt Francoise ihren ganzen Mut zusammen und begibt sich nach Pirmasens, dem Geburtsort ihres Vaters. Dort erfährt sie, dass er im August 1991 verstorben ist, „Wir haben uns nur kurz versäumt“ bedauert Francoise. „Mein Vater hat mich nicht kennengelernt. Er starb ohne zu wissen, dass es mich gibt“.

Die „Patchwork“-Familie

Enttäuscht lässt sie den Kopf hängen. Aber nicht für lange, denn 2007, gleichnach ihrer Pensionierung, wird Francoise Mitglied von „Coeurs sans frontières/Herzen ohne Grenzen“, der Verein, der auch andere Kriegskinder zusammenbringt. Sie nimmt Kontakt auf mit dem Wehrmachts-Archiv in Berlin. Wenige Monate später bekommt sie per Post das Sold-Buch (Militärpass) und ein Foto ihres Vaters. Das Staunen war gross. „Endlich konnte ich mir ein Bild von ihm machen. Es gab keinen Zweifel, er war mein Vater“. Am Ziel ihrer Suche erfährt sie auch, dass Otto Dexheimer Kinder hatte. Zwei seiner Söhne leben noch in Pirmasens. Leider lehnen sie es ab, trotz etlicher Kontaktversuche, Francoise zu treffen. „Sie wollen nichts von mir wissen, aber ich verzweifle nicht und hoffe, sie eines Tages doch noch zu sehen“.

Francoise bekam drei Töchter, sechs Enkel und eine Urenkelin. Sie träumt heute von einer grossen versöhnten Familie. „Demnächst werde ich das Grab meines Vaters besuchen“ meinte sie. „Ich werde wieder versuchen mit meinen Brüdern zu sprechen“.

Odette Leboucher : „Ich musste das Geheimnis ganz alleine tragen“

Seit mehr als 20 Jahren lebt Odette mit ihrem Ehemann im Oise-Tal, in Saint-Gratien. Sie ist die Grossmutter von 2 Enkelkindern und bald 70 Jahre alt. Ein glückliches Familienleben für sie, die lange warten musste, um die Wahrheit über ihre Herkunft zu erfahren. Odette Leboucher erblickte das Licht der Welt im August 1943 in Saint-Bartélemy-d’Anjou. Ihre 21-jährige Mutter ist die Tochter von Geschäftsleuten der Ortschaft. Im Laden ihrer Eltern trifft sie zum ersten Mal Odette’s Vater. Dieser ist 10 Jahre älter als sie. Er ist ein Wehrmachtssoldat in der Garnison von Angers. Nachdem er in den Süd-Westen versetzt wurde, kam er noch einmal vorbei, um seine Tochter zu umarmen, bevor er sich später auf den Weg zur Ostfront machte. „Ich wusste schon sehr früh, dass mein Vater ein Deutscher war, denn meine Mutter und meine Grossmutter stritten sehr oft in meiner Gegenwart über dieses Thema“, erinnert sich Odette. „Es gab sogar ein grosses Foto in einem der Zimmer. Ich wusste, dass er kein Nazi war, ansonsten wäre es für mich sehr schwer gewesen“.

Ein neues Leben

In Saint-Barthélemy-d’Anjou war die Geschichte von Odette sehr bekannt. „Ich wurde nie beschimpft und war auch nie das Ziel irgendwelcher Angriffe“ bestätigt sie , die Betroffene. „Im Dorf wusste man Bescheid, aber keiner nahm daran Anstoss. Meine Mutter war schlau. Nach dem Weggang meines Vaters, erzählte sie, er wäre im Krieg umgekommen und plötzlich wurde sie von allen bemitleidet“.

Die Zeit vergeht und Odette’s Mutter beginnt ein neues Leben. „Von diesem Zeitpunkt an sollte man nicht mehr darüber sprechen. Meine Mutter startet in ihr neues Leben und ich musste das Geheimnis alleine auf meinen Schultern tragen. Schon als Jugentliche hatte ich immer den Wunsch, meinen Vater zu finden. Ich wusste nur, dass er, wie ich blond war und helle Augen hatte“. Die Jahre vergehen Odette lebt ihr eigenes Leben. Sie heiratet, bekommt einen Sohn und Enkelkinder. Das Geheimnis ist noch immer da, jedoch vergraben, bis zum 1. Januar 2011, als sie sich aufmacht, ihren Vater zu suchen. Über das Internet nimmt sie Kontakt mit „Coeurs sans frontières/Herzen ohne Grenzen“ auf. Sie befragt ihre Mutter und erfährt 2 wichtige Informationen : den Namen und den Geburtsort ihres Vaters. Er heisst Otto Bollacke und stammt aus Ibbenbüren in Westfalen.

Er war unglücklich mich nicht kennengelernt zu haben!

Odette Leboucher, ein Kriegskind

Dank dieser Informationen schreibt Odette an das deutsche Militär-Archiv (WAST). Am 10. November 2011 bekommt sie Antwort aus Berlin, die ihr mitteilt, dass ihr Vater im Februar 1981 verstorben ist. Bevor er in den Krieg zog, war er verheiratet und Vater von 4 Kindern. Otto Bollacke wurde 1945 in München von den Amerikanern gefangen genommen, in Frankreich interniert und ist 1946 heimgekehrt. „Ich erfuhr, dass ich 7 Geschwister habe. Mit einer Schwester habe ich Kontakt aufgenommen und ihr mein Vorgehen erklärt“.

Zweifache Zugehörigkeit

Am 14. Januar 2012 bekommt Odette einen Brief ihrer Schwester; sie schreibt : „Wirklich! Es gibt dich wirklich!“. Nach der Rückkehr aus seiner Gefangenschaft hat Otto seiner Familie mitgeteilt, dass er ein kleines Mädchen in Frankreich zurückgelassen hat. Seine Frau verlangte, dass er sich entscheiden müsse. „Ich weiss, dass er unglücklich darüber war, mich nicht kennengelernt zu haben und meine Schwester sagte mir, dass er oft an mich dachte“ erzählt Odette. Ende April 2012 fährt sie nach Deutschland um ihre Familie zu treffen. „Wir wurden fürstlich empfangen“. Endlich konnte ich an seinem Grab in mich gehen. Ich entdeckte einen aufrechten, gradlinigen Mann, der seine Kinder vergötterte“. Im November kam ihre Verwandtschaft zu Besuch nach Saint-Gratien. „Wenn wir uns unterhalten sprechen wir englisch“ amüsiert sie sich. „Seit kurzem nehme ich Deutsch-Unterricht. Zur Zeit bereite ich für April eine neuerliche Reise nach Deutschland vor und einer meiner Brüder kommt uns im Sommer besuchen“. Stolz über ihre Doppel-Zugehörigkeit, hat Odette die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt.

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Odette’s Brüder und Schwestern übergaben ihr mehrere Fotos ihres Vaters und seiner deutschen Familie.

Interview mit Michel Blanc, Präsident von „Coeurs sans frontières/Herzen ohne Grenzen“

„Ein Kriegskind zu sein, ist noch immer ein Tabu in verschiedenen Regionen Frankreichs“

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L’Echo, le Régional : Wie ist Ihr Verein entstanden ?

Michel Blanc, Präsident von Coeurs sans frontières/Herzen ohne Grenzen:

Unser Verein wurde 2006 durch den Journalisten des Figaro, Jean-Paul Picaper, gegründet, nachdem einige Treffen in Deutschland stattgefunden haben. In seinem Buch „Die Kinder der Schande“ schreibt er über die Kriegskinder. Diese Kinder, gezeugt von einem deutschen Vater während der Besatzungszeit, haben schwierigste Momente und enormes Leid erdulden müssen. Wir waren sehr isoliert. Nach diesen Treffen haben wir beschlossen, den Verein „Coeurs sans frontières/Herzen ohne Grenzen“ zu gründen. Heute zählen wir an die 300 Mitglieder.

Welches Ziel hat Coeurs sans frontières ?

Wir helfen den Leuten, die Informationen über ihre deutschen oder österreichischen Väter suchen. Wir haben aber auch Anfragen von Deutschen, die einen französischen Vater haben, welcher in deutscher Kriegsgefangenschaft war. Unser Verein hat auch einige Mitglieder, die uns in Berlin vertreten.

Wie viele Kriegskinder gibt es in Frankreich ?

Nach den Studien des Historikers und Chef des CNRS (Nationales wissenschaftliches Forschungszentrum), Fabrice Virgili, wären es ca. 200 000 Personen, die einen deutschen Soldaten als Vater haben. In Europa sind es schätzungsweise 500 000. Viele von ihnen treten nicht in Erscheinung. In Frankreich ist es jedoch sehr einfach zu recherchieren.

Ist es noch immer ein Makel, das Kind eines deutschen Soldaten zu sein, heutzutage ?

Es ist noch immer ein Tabu in verschiedenen Regionen Frankreichs, insbesondere im Norden und Osten. Die Besatzung war schwieriger und es gab die komplizierten Fälle von Elsass-Lothringen mit den „Malgré-nous“, die von der deutschen Wehrmacht Zwangsrekrutierten. In anderen Regionen spricht man leichter darüber.

Wie geht man vor, wenn jemand Zweifel an seiner Herkunft hat ?

Man kann sich alleine auf die Suche machen, aber man wird auf mehr Schwierigkeiten stossen. Das Einfachste ist es, mit uns Kontakt aufzunehmen. Das kann Zeit in Anspruch nehmen, aber unsere ehrenamtlichen Helfer haben Erfahrungen, die sie denen, die auf der Suche nach Informationen über ihren Vater sind, zur Verfügung stellen. Ich, zum Beispiel, habe 6 Jahre gebraucht um meinen zu finden. Wir helfen bei der Kontaktaufnahme und übersetzen Dokumente. Es wurde schon eine grosse Arbeit geleistet mit dem deutschen Militär-Archiv (WAST).

Machen die Deutschen das Notwendige um den betroffenen Personen zu helfen ?

Es besteht kein Problem mit ihnen. Man muss einige Daten liefern, wie den Namen, den Geburtsort und den Zugehörigkeitsort des deutschen Soldaten. Danach findet die WAST das Sold-Buch (Militärpass) mit seiner Stammrolle (militärischer Werdegang). Manchmal gehen sie auch noch weiter als die an sie gerichtete Anfrage, weit über ihre übliche Arbeit hinaus. Sie sind sehr hilfsbereit und kooperativ, im besonderen unsere Delegierte in Deutschland, Marie-Cécile Zipperling. Sie ist unser Stützpunkt dort.

Wenn die Identität des Soldaten bekannt ist, was passiert dann ?

Die WAST wird sich mit der Person in Verbindung setzen, um alle gefundenen Informationen weiterzugeben. Von diesem Augenblick an kann man mit der Familie in Deutschland Kontakt aufnehmen. Normalerweise endet die Geschichte sehr gut zwischen den Familien. Die meisten Leute sind bereit ihre französischen Brüder oder Schwestern zu treffen, aber alles muss sehr korrekt und taktvoll geschehen.

Am 22.Januar feierten wir den Jahrestag des Elysée-Vertrages. Was bedeutet dieses Datum für sie ?

Dieser symbolische Geburtstag festigt die deutsch-französische Freundschaft, was für uns Kriegskinder äusserst wichtig ist. Es ist sehr hilfreich für all unsere laufenden und zukünftigen Recherchen.

Die Gespräche wurden von R.Da geführt.

-Übersetzt aus der Zeitung „L’ECHO, le Régional“ vom 24. Januar 2013