Rechts : Claire FOURIER - Nach links: ihr Dolmetscherin : Cornelia Horst

Das vielfältige Schweigen des Krieges – Claire Fourier

2012 : Preisträgerin des Bretagne – des stadt von Vannes – des Stadt von Carhaix.

Buchvorstellung durch die Autorin, zum besonderen Anlass des Jahrestreffens von „Coeurs sans frontières – Herzen ohne Genzen“

Das vielfältige Schweigen des Krieges verdankt seinen Titel dem Roman Das Schweigen des Meeres von Jean Vercors. Seit langem schon faszinierte mich der Gedanke, ein weibliches Pendant zu dem männlichen Buch zu schreiben. Ich wollte dabei so nahe wie möglich an der Wirklichkeit bleiben, während Vercors 1942 einen den Zeitumständen entsprechenden Text, ja sogar einen Propaganda-Text geschrieben hatte. Man riet mir dringend davon ab, an ein solches Kultbuch zu rühren, und so habe ich lange gezögert. Der 2. Weltkrieg hat jüngst wieder zu einer Reihe von Veröffentlichungen geführt, die sämtlich von Männern geschrieben wurden. Vielleicht gab das den entscheidenden Anstoß. Dann hörte ich den Historiker Jaques Rolland sagen, dass 70 Jahre vergehen müssten, bevor man auch nur in Ansätzen das wirkliche Geschehen einer historischen Epoche erfasse. Das vielfältige Schweigen des Krieges erscheint nun also 70 Jahre nach dem Schweigen des Meeres.

Das Thema ist – so alt und banal dies scheinen mag – doch eines der wirkungsvollsten überhaupt: Die verbotene Liebe in Zeiten des Krieges. Schon die Bibel kennt dieses Thema, Homer greift es auf mit Helena und Paris, Shakespeare in Romeo und Julia, Corneille, Racine, Maurice Barrès in Colette Baudoche, Lubitsch in dem Film Der Mann, den ich getötet habe, Marguerite Duras in Hirsohima, mon amour etc. – alle haben dieses Thema behandelt.

Die Idee meines Buches ist einfach: Das Volk, das es wagt zu lieben, ist sowohl den Befehlshabern voraus, die Hass predigen, wie auch den politischen Unruhestiftern und den Militärs, die befehlen, ihnen in den Abgrund von Unverstand und Unfähigkeit zu folgen.

In den Kriegswirren haben Leute „von unten“ – bewegt von dem Wunsch, über sich selbst hinaus zu wachsen und insgeheim weiter zu gehen als die „von oben“, motiviert durch eine Art Suche nach dem Graal, ganz im Sinne des Gebots gelebt „Du sollst nicht töten“. Sublime Wesen im wahrsten Sinn des Wortes sub-limen, was soviel heißt wie: Über die Demarkationslinie hinaus gehend. Diese „Widerstandskämpfer der Liebe“ haben aus Instinkt oder Verstand heraus gehandelt in individueller Tapferkeit und der Weigerung, sich der Atmosphäre von Gewalt zu unterwerfen.

Ich habe erfahren, dass es 200 000 Kinder aus französisch-deutschen Liebesverhältnissen gab, und bin überzeugt davon, dass viele von ihnen aus ernsthaften, geheim gehaltenen Verbindungen hervor gegangen sind. So hat es mich interessiert, mich mit den Gewissensproblemen und Leiden solch „verbotener Liebe“ auseinander zu setzen.

Ich bin in meinem Roman bemüht, Vorurteile, Stereotype, einengende Vereinfachungen zu vermeiden, die Gefühl und Einbildungskraft unfruchtbar machen. Ganz im Gegenteil habe ich mich, ohne Schwarz-Weiß-Malerei und auf Nuancierung bedacht, dieser traumatischen Epoche zugewandt (was allein friedensfördernd ist) und habe vorsichtig versucht, die menschliche Komplexität und das weite Spektrum der damaligen Wirklichkeit zu erfassen.

Meine Erzählung spielt Ende 1943 bis Anfang 1944 in einem besetzten Dorf nördlich von Brest, nur 3 Kilometer von den Stränden entfernt. Der Krieg hat gerade eine Wende genommen. Die Deutschen verlieren an mehreren Fronten, und Hitler hat Rommel beauftragt, den Atlantik-Wall zu verstärken. In einem beschlagnahmten Haus treffen drei Personen aufeinander: Ein deutscher Pionieroffizier, Herrmann Christhaller, der zum Bau des Atlantik-Walls dorthin abgeordnet worden ist. Er gehört nicht zur Wehrmacht, sondern zur Organisation Todt, die überall an der Küste präsent ist. Geistig steht er den Nazi-Dissidenten nahe.

Als zweites ein Franzose, Pierre Ruzcoat, der am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte. Als Tierarzt hat er die Aufgabe, die Pferde der Besatzungstruppen sowie der Reiterabteilung der Vlassow-Armee zu versorgen, die in diesem Dorf liegt. Er ist Witwer und gehört zur Résistance-Bewegung.

Als drittes eine junge Französin, Glaoda – die Tochter von Pierre Ruzcoat. Da ihre Kurse an der Universität unterbrochen worden sind, ist die junge Studentin in ihr Dorf zurück gekehrt. Noch keine 20 Jahre alt, hat sie die Unschuld und Frische einer Strandfee.

An der Nordküste des Finistère fühlt sich der Deutsche aus dem Baltikum wie in seiner Heimat. Zudem erinnert ihn diese Landschaft an einen berühmten Maler, der – wie er – aus Pommern stammte, und den er besonders mag: Caspar David Friedrich. Dessen Bilder scheinen ihm eben dort gemalt zu sein, wo der junge Offizier täglich den Bau von Bunkern und Atlantik-Wall überwacht. Hermann – so benannt nach Arminius, dem Symbol des germanischen Kriegshelden – ist ein gebildeter, Musik liebender Mann, der hin und wieder selbst gerne malt. Er fühlt sich nicht als Feind von Leuten, die in einer Landschaft wohnen, die ihm so vertraut erscheint. Er versucht, sogleich mit ihnen ins Gespräch zu kommen, indem er auf die Ähnlichkeiten zwischen seinem Land und dem, wo er sich gerade aufhält, zu sprechen kommt. Daher auch die im Buch immer wiederkehrende Frage : Wo ist eigentlich meine Heimat? Was bedeutet Heimat überhaupt? Die Franzosen könnten sich nun im Schweigen verschließen, wie es die Personen im Schweigen des Meeres tun. Aber sie entscheiden sich dafür, zu reden.

Es beginnt also in jener beschlagnahmten Unterkunft ein Austausch, der immer intensiver wird und eine zweifache Geschichte zur Folge hat: Die beiden Männer schätzen einander mehr und mehr, der Offizier und das Mädchen verlieben sich.

Das vielfältige Schweigen des Krieges gründet somit auf dem Dialog zwischen Menschen, die überlegt handeln und guten Willens sind.

Die drei notgedrungen zusammen Lebenden lassen – getragen von moralischer Verantwortung und dem Bemühen um Wahrhaftigkeit – im Laufe langer Abende die Vergangenheit und Zukunft ihres jeweiligen Landes lebendig werden, nehmen Zukünftiges vorweg. Sie fragen sich, versuchen zu begreifen, wie es soweit kommen konnte, wie es überhaupt zum Krieg kommt. Jeder an sein Land in Treue gebunden, wollen sie doch das absolut Unbegreifliche dessen, was Krieg bedeutet, verstehen. In fast 5 Monaten bringt das Bemühen, dem Anderen Aufmerksamkeit zu schenken, eine friedliche und friedliebende Beziehung herzustellen, Vater, Tochter und den Offizier so weit, über die augenblickliche Lage hinauszugehen und sich wie Europäer zu verhalten (ehe es diesen Begriff gab), im Geiste von Gandhi und Romain Rolland, welcher deutsche Offiziere an seinen Tisch lud, um mit ihnen über den Krieg zu sprechen und zu versuchen, den Krieg zumindest in den Köpfen einzudämmen.

Das Buch ist in der ersten Person geschrieben. Zwanzig Jahre nach den Ereignissen nimmt Glaoda – inzwischen zur Frau gereift – die alten Notizen zur Hand und vertieft sich nochmals in jene Zeit, die sie für immer geprägt hat und ihrem Leben Orientierung gab. Inzwischen hat sie sich intensiv mit dem 2. Weltkrieg befasst. So verknüpft sie ihre kleine Geschichte mit der großen. Welches aber ist die kleine, welches die große?

Die Personen sind fiktiv, der geschichtliche Kontext entspricht der Wirklichkeit. Die Gelenkstelle zwischen 1943 – 1944 war für mich zwingend, da sie den Protagonisten den Rückblick auf den Krieg erlaubte und dessen entscheidende Momente in den Fokus zu nehmen. Gleichermaßen drängte sich der Ort auf, das Dorf meiner Geburt (bretonisch:Gwitalmézé), denn dort hatte ich als Kind viel vom Krieg reden gehört.

Außer der Menge von schriftlichen Dokumenten und der Vielzahl von Filmen, die ich mir anschaute, stieß ich bei meinem intensiven Surfen im Netz auf zahlreiche noch nicht benutzte Zeugnisse aus der damaligen Zeit. Dadurch konnte ich das tägliche Leben der Dorfbewohner unter der Besatzung beschreiben, das Elend von Brest nach dessen Bombardierung durch die Alliierten und auch militärische Operationen ansprechen, die der Öffentlichkeit und selbst Historikern unbekannt waren. So z.B. die Operation „Cerberus“, bei der es den U-Booten der deutschen Marine gelungen war, Brest zu verlassen und durch den Ärmelkanal bis nach Norwegen zu gelangen, ohne dass die Alliierten etwas bemerkten. Ich konnte an Mers El Kebir (Hafen) erinnern (gemeint ist die Zerstörung von Teilen der französischen Flotte durch die Engländer – Anm. der Übersetzerin), einen Angriff, durch den mein Heimatdorf so viele menschliche Verluste erlitten hat, ebenso an die „Hitler-Trotzkisten“, französische und deutsche Arbeiter im Arsenal (militärische Werft), die sich verbrüdert hatten. Sie wurden durch die Gestapo festgenommen, erschossen oder in Konzentrationslager deportiert. Alle wurden sie nach dem Krieg von den französischen Kommunisten „vergessen“.

Das Buch hat mich drei Jahre Arbeit gekostet. Da mir Genauigkeit wichtig ist, bin ich an die baltische Küste gefahren und auch auf die Insel Rügen, um das Land zu erkunden und so Parallelen herstellen zu können zwischen dem Land des Offiziers und dem der jungen Französin. Selbstverständlich – und darin besteht ja die Arbeit des Schriftstellers – habe ich minutiös an der Sprache gearbeitet, um eine sehr vielschichtige Geschichte klar und verständlich zu machen. Das vielfältige Schweigen des Krieges bringt somit Literatur und Geschichte zusammen.

Ich kann sagen, dass dabei nicht ein Autor auf der Suche nach Personen einer Geschichte war, sondern Personen auf der Suche nach einem Autor. Ich befand mich an Ort und Stelle und bin dieser Aufforderung, die aus meinen Innern kam, gefolgt. Ja, ich wage zu sagen, dass ich auf meine Art auf diesen Appell reagiert habe: Ich habe Personen ins Leben gerufen, die zwar viel erlitten haben, aber andererseits, von einem unbezwingbaren Lebenswillen und der Suche nach einem Leben in Liebe und Harmonie getragen, beschlossen haben, nein zum Krieg zu sagen und in eine Art höheren Widerstand einzutreten, nämlich den Widerstand gegen jeglichen Krieg.

Am Ende dieser kurzen Vorstellung meines Romans zitiere ich Romain Rolland, der an Stefan Zweig geschrieben hat : „Wir sind uns beide darüber einig, dass das größte Verbrechen dieses Krieges die Unterdrückung des freien Wortes ist“. Er fügte hinzu: „Ich nenne Helden die, die sich durch Herzensgröße auszeichneten“. Und auf bestimmte Verhaltensweisen anspielend: „Sie verwechseln das Vaterland mit dem Hass derer, mit denen das Vaterland im Krieg ist.“

Claire Fourier

„Les silences de la guerre „- Ausgaben Dialogue.