Aus Schwarzwälder Bote vom Samstag, 16. Januar 2016
Foto: Müssigmann
Von Lena Müssigmann
Die Mutter von Jürgen Baiker (67) aus Empfingen hat ihm kurz vor ihrem Tod ein Geheimnis offenbart: Er ist der Sohn eines französischen Soldaten, der in Horb stationiert war. Baiker hatte so was geahnt. Seit er es weiß, ist er auf der Suche.
Empfingen/Horb. Im Wohnzimmer von Jürgen Baiker hängt das Bild eines Soldaten in der Familiengalerie – nicht weit entfernt vom Bild seiner Mutter Helene Baiker, geborene Wagner, und ihrem Ehemann, dem Mann, der für Baiker Zeit seines Lebens der Vater war. Der Soldat ist Simon Megevand – Baikers leiblicher Vater.
Er hat markante Gesichtszüge, einen sanften Blick. „Wenn ich das Bild neben Fotos von mir und meinen Kindern halte – genau die Linie!“, meint Baiker.
Aus Rücksicht auf seine Eltern schweigt er das Thema tot
Baiker ist ein Besatzungskind. Wie viele andere, die in der Nachkriegszeit geboren sind. Schätzungen reichen von 200 000 bis 400 000 Besatzungskindern in Deutschland. Die Mutter Deutsche, der Vater Besatzungssoldat aus Amerika, Frankreich oder der Sowjetunion. Oft wurden diese Kinder ausgegrenzt, die Mütter für die unehelichen Beziehungen verachtet. Baiker hatte das Glück, so etwas nicht erleben zu müssen – auch weil seine Abstammung geheim gehalten wurde.
Ein Satz in seiner Abstammungsurkunde hat ihn schon stutzig gemacht, als er 15 war. Andreas Baiker habe ihn „an Kindes statt angenommen“, heißt es da. Baiker wurde klar, dass er adoptiert war. Er erinnert sich an eine Diskussion mit der Mutter, die seiner Erinnerung nach aber nichts Konkretes lieferte. Baiker gab sich damit zufrieden, fragte nicht weiter nach, 40 Jahre lang fasste er das Thema nicht mehr an. Warum? „Das hängt mit der Erziehung zusammen“, sagt er. „Man hat damals eine andere Höflichkeit gehabt gegenüber den Eltern.“ Aus Rücksicht auf seine Mutter, vielleicht auch auf den Adoptivvater, schweigt er das Thema tot. Er akzeptiert den schwarzen Fleck in seiner eigenen Identität. Ihn mit Inhalt zu füllen, sollte später auch schwierig werden.
Im Frühjahr 2003, Baikers Mutter war 81 Jahre alt, aber noch fit, sagten ihm seine Schwestern, die Mutter wolle dringend mit ihm reden. Als er sie besuchte, sprach sie das Geheimnis aus, das sie ihr Leben lang vor ihrem ältesten Sohn verborgen gehalten hatte. Er ist das Kind eines französischen Soldaten, den sie bei ihrer Arbeit als Küchenhilfe in der Horber Kaserne kennengelernt hatte.
Warum sie ihm nie davon erzählt hat? Ihr sei es vorgekommen, als habe er kein Interesse gehabt – schließlich habe er nach dem ersten Gesprächsversuch nie wieder nachgefragt. Sie wolle ihm nun aber nach und nach von seiner Herkunft erzählen, sagte sie. Wieder vergingen sechs Monate, ohne dass einer von beiden das Thema wieder ansprach. „Im Nachhinein betrachtet, war das der größte Fehler“, sagt Baiker.
Im September 2003 starb Helene Baiker bei einer Notoperation. Zuhause hatte sie aber alles für ihren Sohn vorbereitet: Baiker fand einen Schnellhefter mit einem großformatigen Foto des Vaters. Bei den Unterlagen waren handschriftlich notierte Kasernenadressen, ausgeschnitten aus Briefumschlägen, vielleicht von Megevand als Absender aufgeschrieben, in Königsblau, geschwungene Schrift. Baiker fand auch den Adoptionsvertrag – 1951 hatte Andreas Baiker ihn als seinen Sohn anerkannt. Auf dem Schein heißt es: „Natürlicher Vater des Kindes ist ein französischer Soldat, der in Indochina sein soll, aber auf die seinerseitige Mitteilung von der Schwangerschaft der Kindsmutter keine Antwort gab, und seither nichts mehr von sich hören ließ.“
Er wurde strafversetzt, vermutlich schon während der Schwangerschaft, meint Baiker heute. Liaisons der Soldaten mit deutschen Frauen seien nicht gerne gesehen gewesen.
Brief an alle Megevands in Frankreich liefert einen Volltreffer.
Jürgen Baiker weiß nicht, wer Simon Megevand war, ob er lange genug in Horb stationiert war, um zu sehen, dass Helene Wagner schwanger war. Er weiß nicht, ob Megevand nach seiner Rückkehr aus Indochina nach ihr gesucht hat, oder ob die Sache für ihn erledigt gewesen ist. Er weiß nicht, ob die Mutter dem Geliebten von der Geburt ihres gesunden Kindes, eines Jungen, berichten konnte. Er weiß nicht, ob der Soldat überhaupt von ihm, seinem Sohn, wusste – eine der wichtigsten Fragen für Baiker.
Dass sich sein leiblicher Vater nie um ihn gekümmert hat, daraus macht er ihm keinen Vorwurf, vielmehr seinen Verwandten, die viel früher von seiner Herkunft wussten, ihm aber nichts davon sagten.
Nach dem Tod der Mutter hat Baiker angefangen zu recherchieren. Der Nachname Megevand ergibt 60 Treffer im französischen Telefonbuch – Baiker verschickte an alle 60 Adressen einen Brief mit einem Bild des jungen Soldaten. Zwei Tage später klingelte spätabends das Telefon. Ein Mann meldete sich, sagte, in seinem Wohnzimmer hänge dasselbe Foto. Es war Michel, ein Halbbruder von Baiker.
Zurückhaltung bei der Suche nach Einzelheiten zum Leben des Vaters
Der Soldat Simon Megevand hat in Frankreich geheiratet, hatte zwei Söhne, Michel und Patrick, zwei Enkelinnen. Baiker erfährt aber auch, dass sein Vater schon 1981 im Alter von 63 Jahren gestorben ist. „Er war ein starker Raucher“, sagt Baiker. Das ist die einzige Eigenschaft des unbekannten Mannes, von der er weiß. Erst vor wenigen Tagen hat ihm eine frühere Freundin seiner Mutter auf einen Brief geantwortet: „Ihr Vater war ein sehr netter und ruhiger Mensch. Leider bekamen wir keine Auskunft von dem Tag an, als die ganze Companie nach Indo-China abberufen wurde.“
Baiker fährt 2004 zum Grab des unbekannten Vaters in Le Blanc-Mesnil bei Paris, rund 600 Kilometer von Empfingen entfernt, weitere Besuche macht er 2006 und 2009. Er bringt Blumen mit, lässt sich am Grab fotografieren. Für Baiker waren die Besuche wichtig, weil er dem Vater, den er nie kennenlernen durfte, gewissermaßen doch begegnen konnte.
Im Prinzip ist es Baiker gelungen, das Geheimnis seiner Vergangenheit zu lüften. Aber er fühlt sich nicht am Ziel. Er würde sich wünschen, dass Kontakt zwischen seiner Familie und den Nachkommen von Megevand in Frankreich besteht. Aber sie sprechen nicht die gleiche Sprache.
Das Interesse der Halbbrüder ist eher gering – einer hat ihm einen Brief ungeöffnet zurückgeschickt, für Baiker eine Enttäuschung. Immerhin hat er ein Foto von Patrick mit seiner Mutter – der Witwe von Simon Megevand – erhalten. Sie lebt Baikers Wissens nach noch und könnte viel von dem Mann erzählen, den er kennenlernen will. Aber weiß die Frau überhaupt von dem Kind ihres Mannes in Deutschland? „Es wäre mal am besten, man nimmt sich eine Woche Zeit und fährt da hin“, sagt Baiker. Seine Suche braucht Mut. Und Zeit. Die droht ihm angesichts des Alters der Zeitzeugen wieder davonzulaufen.