Meine lieben Schwestern,
meine liebe korsische Familie,
Heute möchte ich Euch den Teil meiner Lebensgeschichte schildern, die sehr von der Suche nach meinem Vater und der Liebe zu der wunderschönen Insel Korsika geprägt war.
Als ich am 1.März 1946 geboren wurde, war dies für unsere Familie eine schwierige Situation, denn in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg war es in dem kleinen Dorf am Bodensee, in dem ich aufgewachsen bin, für eine junge Frau nicht einfach ein Kind ohne Vater großzuziehen, meine Mutter war vielen Vorurteilen ausgesetzt, hatte sich aber, wie sie mir oft versicherte vom ersten Moment an auf ihr Kind gefreut und war bereit alle Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Da meine Großeltern beide berufstätig waren und auch meine Mutter im Krankenhaus arbeitete, musste ich mein erstes halbes Lebensjahr auf der Säuglingsstation im Krankenhaus verbringen und meine Mutter konnte mich nur in ihrer Freizeit zu sich nehmen, was ihr sehr weh tat. Meine Großmutter, die mich später einige Jahre lang während der Arbeitszeit meiner Mutter betreute, erzählte mir oft, es sei für sie ein großer Trost gewesen zu wissen, dass mein Vater ein guter Mensch war. Er hatte in der Zeit, als er bei meinen Großeltern wohnte, die ganze Familie mit Nahrungsmitteln aus der Armee versorgt, war immer freundlich und hilfsbereit und alle hatten ihn gern.
Auch für mich war es sehr wichtig diese positive Vorstellung von meinem Vater zu haben.
Aber nun zur Vorgeschichte. Am 17. 5. 45 kam Henri in das Haus meiner Großeltern, wo auch meine Mutter wohnte, hier lernten sie sich kennen. Später wurde er nach dem 17 km entfernten Konstanz abkommandiert und auch in dieser Zeit hatte meine Mutter Kontakt mit ihm und besuchte ihn dort. Als seine Kompanie abgezogen wurde, wusste unser Vater nicht, dass sie schwanger war und der größte Wunsch meiner Mutter war, ihm dies mitzuteilen. Aber alle Versuche über das Rote Kreuz etc. verliefen ohne Ergebnis. Man teilte ihr mit, dass mein Vater im Indochinakrieg gefallen sei. Bekannt war meiner Mutter lediglich der Name, das Geburtsdatum und dass Henri Korse war. Ich erfuhr die ganze Geschichte als ich etwa zehn Jahre alt war.
1952 heiratete meine Mutter dann einen Mann, mit dem sie sehr viel Pech hatte und auch für mich war er ein Unglück. Glücklicherweise ließ sie sich 1962 scheiden. Nachdem ich die Wahrheit über meinen richtigen Vater erfahren hatte, wuchs die Sehnsucht nach ihm manchmal ins fast Unerträgliche. Ich stellte mir immer vor, dass es mir bei ihm sicher gut gehen würde. Wie oft habe ich geweint!
Als Jugendliche dann wollte ich alles daran setzen, ihn zu finden. Ich schrieb an das Französische Konsulat, bekam aber die Nachricht, dass man mir nicht helfen könne. 1966 dann kam ich über Freunde meiner Mutter an die Adresse von Monsieur Jean Pierre Leverd, dem Polizeichef von Korsika, Caserne Battesti. Im Sommer fuhr ich mit zwei Freundinnen über Nizza nach Ajaccio und wir suchten Monsieur Leverd auf und baten ihn um Hilfe bei der Suche. Er versprach mir zu helfen und bat uns nach zehn Tagen wieder zu kommen. Zehn Tage später erzählte er uns, er habe die Spur meines Vaters bis 1962 verfolgen können, aber dann sei sie im Sande verlaufen. Immerhin konnte ich jetzt annehmen, dass er noch lebte, aber trotzdem fuhr ich traurig wieder nach Hause.
Zehn Jahre später erfuhr ich dann wieder auf Umwegen durch jene Freunde von Monsieur Leverd, dass dieser meinen Vater ganz schnell gefunden hatte, der auch bei der Polizei arbeitete, er ließ ihn zu sich kommen und erzählte ihm von seiner Tochter, die ihn suche. Aber er war sehr erschüttert und weinte, er hatte Angst, es seiner Familie zu sagen. Daraufhin beschloss Monsieur Leverd mir nicht die Wahrheit zu sagen und eure Familie zu schützen. Rückblickend muss ich sagen, dass er richtig gehandelt hat.
1976, nachdem ich diese Nachricht erhalten hatte, beschlossen mein Mann und ich sofort nach Korsika zu reisen mit R 4 und kleinem Zelt und in jeder Polizeistation nachzufragen, ob Henri Samartini dort arbeitete, denn wir wussten ja nicht, wo Monsieur Leverd ihn vor zehn Jahren gefunden hatte.
Wir beschlossen in Ajaccio anzufangen und so ging ich klopfenden Herzens in die Polizeistation und fragte nach Henri Samartini. Der Polizist sah im Dienstplan nach und meinte, dass er um zwei Uhr Dienst habe. Wie war ich aufgeregt! Als ich ihm dann gegenüberstand, stellte ich ihm zuerst ein paar Fragen um sicher zu sein, dass er mein Vater ist. Dann gab ich ihm einen Brief, den mir eine Freundin übersetzt hatte, die perfekt französisch spricht. In diesem Brief stellte ich klar, dass ich nicht die Absicht hatte, seine Familie in Unruhe zu versetzen, sondern dass ich ihn einfach kennen lernen wollte, da es für mich wichtig war, meine Wurzeln zu finden. Mein Vater nahm den Brief und ging in sein Büro. Es dauerte lange, bis er wieder herauskam und dann war er sehr aufgewühlt und wollte uns zu seiner Familie bringen. Das habe ich aber abgelehnt, weil ich es für eine Kurzschlussreaktion hielt. So tranken wir in einem Bistro einen Kaffee und redeten, damals erzählte er mir auch, dass er drei Töchter habe. Wir trafen uns auch am nächsten Tag noch einmal. Ich gab ihm noch ein Kinderfoto von mir und unsere Adresse, leider hörte ich nie etwas von ihm.
1977 reisten wir noch einmal nach Korsika, dieses Mal mit drei Kindern Nicole, Esther und unserem Adoptivsohn Philipp (Philipp kommt aus Korea und leider hat er den Kontakt zu uns abgebrochen) und meiner Mutter. Meinen Vater trafen wir zufällig, als er in ein Polizeiauto einsteigen wollte. Wir unterhielten uns eine Weile und verabschiedeten uns dann. Danach ging es mir sehr schlecht, ich wurde mir bewusst, ihn, den ich so lange gesucht hatte, gefunden und gleich wieder verloren zu haben.
Wir verbrachten dann 1979 noch einen Urlaub in Korsika, ich suchte aber keinen Kontakt mehr zu meinem Vater.
2001 dann, ich hatte gedacht alles überwunden zu haben, wollten wir nach vielen Jahren wieder einmal nach Korsika reisen. Als wir auf dem Campingplatz in Verghia La Vallé waren, ließ es mir keine Ruhe und ich fand im Telefonbuch die Nummer und die Straße von Henri und dir, Danielle. Es war schwierig für uns die Adresse Residance A mandarina zu finden, und erst auf dem Reisebüro zeigte man uns auf dem Stadtplan das Wohngebiet. Wir fuhren am 4. Juni (Pfingstmontag) hin und ich stand schon vor der Haustüre von bat D, aber da verließ mich der Mut. So rief ich an und hatte zunächst eine Frau am Telefon. Ich fragte sie, ob ich Henri Samartini sprechen kann und sie gab ihm den Hörer. Dann fragte ich meinen Vater, ob er sich an seine Tochter aus Deutschland erinnert, er war eine ganze Weile still und sagte dann barsch: „Ich habe keine Tochter in Deutschland. Au revoir Madame“, und legte auf. Ich weiß das noch so genau, weil ich alles in meinem Reisetagebuch festgehalten habe. Das war sehr schwer zu ertragen für mich, aber ich mache ihm keine Vorwürfe, denn ich hatte ihn überrumpelt und er war auf die Situation überhaupt nicht vorbereitet. Am nächsten Tag reisten wir aus Ajaccio ab, und ich beschloss, meinen Vater zu vergessen und auch nach Korsika wollte ich nicht mehr fahren, weil ich wusste, dass ich dies nicht ohne schmerzliche Emotionen tun könnte.
Aber auch unsere Kinder hat es immer wieder nach Korsika gezogen, so sind Esther und Jörg den GR 20 gewandert. Nicole und Tom haben ihre Hochzeitsreise nach Korsika gemacht und haben 2006 mit den Kindern ihren Sommerurlaub auf der Insel verbracht.
Als ich am Pfingstmontag aus irgendeiner Intuition heraus den Namen unseres Vaters in das Internet eingab, traute ich meinen Augen nicht und dachte zuerst, jemand will einen üblen Scherz mit mir machen. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja! Seither glaube ich wieder an Wunder!
Abschließend möchte ich Euch noch von ganzem Herzen danken, dass ihr mich so herzlich willkommen heißt, danke auch dafür, dass Ihr mich gesucht habt, ich bin so glücklich darüber. Unserem Vater gegenüber habe ich keinerlei Groll und mache ihm keine Vorwürfe, es war sicher nicht einfach für ihn, mit dem Geheimnis zu leben und ich bin froh, dass er es sich noch von der Seele geredet hat und seine innere Ruhe fand. Traurig bin ich darüber, dass er nicht mehr lebt, aber ich bin mir sicher, dass wir es ihm zu verdanken haben, dass wir uns gefunden haben.
In Dankbarkeit umarmt Euch alle
Gabriele
Diesen Brief habe ich übersetzen lassen, weil es mir wichtig ist, dass Ihr mich richtig versteht. Wenn meine E-Mails an Euch ungeschickt und holprig sind, verzeiht mir, denn leider habe ich das meiste meines Schulfranzösisch vergessen.
Anmerkung :
Kurz nach dem Telefonat mit meinem Vater 2001 hat er seiner Familie alles erzählt und meine Schwestern haben sich sofort auf die Suche nach mir gemacht, leider erfolglos. Sogar über Zeitungen und Radio suchten sie nach mir, dies auf ausdrücklichen Wunsch meines Vaters, der leider zwei Jahre vor wir uns fanden gestorben war. Letztlich führten also die Suchanzeigen im Internet zum Erfolg.
Seitdem sind wir ein Teil einer großen Familie in Korsika und es ist, als ob wir schon immer dazugehört hätten. Viele Besuche und Gegenbesuche haben bereits stattgefunden.
Gabriele und die Schwestern
Von links nach rechts: Gabriele – Danielle – Christiane – Jeanne